Die Verachtung der Arbeitslosen

Wer Arbeit hat, verachtet den Arbeitslosen. Je näher er selbst an der Grenze zur Arbeitslosigkeit steht, desto mehr verachtet er ihn, muss er ihn verachten, denn dadurch, dass er arbeitet, hebt er sich von diesem ab. Es ist ein Statement: Ich bin nicht arbeitslos, solange ich mich anstrenge. Weil ich mich anstrenge! Wer arbeitslos ist, hat sich nicht genug angestrengt. Sonst wäre er nicht arbeitslos. Das Fernsehen bestärkt uns in dieser Wahrnehmung: Taugenichtse und Sozialschmarotzer allerorten. Doch das greift zu kurz. Der klischeehafte arbeitsscheue Bezügeempfänger ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Mit Hartz IV lässt es sich nicht bequem leben. Hartz IV stellt sicher, dass sich niemand darauf ausruhen kann. Aber es bringt auch die in Armut, die von unserer Gesellschaft gestützt werden sollten: Eine alleinerziehende Mutter, die noch keinen Kitaplatz hat, ein Mann, der nach einem Arbeitsunfall berufsunfähig geworden ist – und Kinder. Kinder können keine Arbeiter sein und keine Angestellten, sie dürfen nicht wählen oder Autofahren, aber in unserem Land können sie in jedem Alter schon Hartz IV-Empfänger sein. Das Kindergeld wird ihm übrigens als „Einkommen“ vom Hartz IV-Satz abgezogen.

Je näher eine berufstätige Person den kalten Atem der Arbeitslosigkeit spürt, je näher sie einkommensmäßig an Hartz IV ist, desto mehr kann ein Arbeitgeber Druck ausüben, um ihre Arbeitsleistung zu erhöhen. Die Verachtung der Menschen mit schlecht bezahlten und unsicheren Jobs für die Arbeitslosen speist sich aus der Angst und der eigenen Ohnmacht. Sie ist nichts als die Selbstvergewisserung darüber, dass einem das nicht passieren kann. Man ist ja fleißig, man strengt sich an. Deshalb ist man anders, deshalb wird man nicht arbeitslos werden. In Wahrheit ist das eine Illusion, die die Gesellschaft spaltet und die Ausbeutungsmaschinerie immer weiter neu befeuert. Wer seinen Job behalten will, wird nicht krank. Er meckert nicht, er nimmt keinen Urlaub. Viele der schlecht bezahlten Teilzeitjobs sind dadurch geprägt, dass in ihnen die bestehenden Gesetze zu Urlaub und Krankheit einfach so und mehr oder weniger einvernehmlich außer Kraft gesetzt werden: Wenn Du nicht da bist, machst Du keine Stunden, wenn Du keine Stunden machst, wird nichts bezahlt. Wenn Dir das nicht passt, kannst Du ja klagen. Eine bittere Ironie, dass jenen, die am meisten Schutz brauchen, die helfende Hand des Rechts weiter entfernt ist als jedem anderen.

In Ihrem Artikel „Der Wert der Arbeit“ stellt Anna Mayr fest, dass das Klischee des faulen Rumsitzers unzutreffend ist. Sie sagt, dass Nichtarbeit einer von mehreren Zuständen ist, in die Menschen in einer sozialen Marktwirtschaft geraten können. Deshalb sollte niemand unter ihr leiden oder für sie bestraft werden. Dieser Vergleich ist sehr gut, denn er baut Vorbehalte zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen ab, er baut Ausgrenzung ab. Arbeitslosigkeit sollte kein Druckmittel für Arbeitende sein, und keine größere Belastung für die Betroffenen, als sie es ohnehin schon ist. Ausgrenzung entsteht nicht aus Hass gegen eine Gruppe von Menschen, sondern oft aus der eigenen Angst vor der Arbeitslosigkeit. Sie schadet damit den Arbeitslosen, aber auch den Beschäftigten. 

Paul Lafargue forderte 1880 in „Das Recht auf Faulheit“ nicht etwa die Einführung eines Grundrechts auf Faulheit, sondern die Abschaffung der kapitalistischen Zwangsdogmen über Arbeit, die Menschen in einem gnadenlosen, maschinellen System auspressen. Auch wenn die Methoden heute deutlich subtiler sind, heißt das nicht, dass sie nicht mehr existieren. Obwohl es die Produktionsmethoden längst zuließen, arbeiten die meisten Menschen in 40-Stunden-Wochen, verbringen die beste Zeit ihres Tages in Produktionshallen und Büros und schenken den besten Teil ihrer Kraft nicht Ihren Kindern und anderen Angehörigen, sondern ihrer Arbeit. Die Möglichkeiten moderner Produktionsweisen werden nicht genutzt, um das Leben der Menschen zu verbessern, sondern nur, um den Konsum zu steigern. Das einzige Leben, das verbessert wird, ist das des „Fabrikbesitzers“. Alle anderen haben Angst vor dem Abrutschen. 

Die Angst vor dem Rutsch, die längst nicht mehr nur die prekären Beschäftigungsverhältnisse betrifft, ist allgegenwärtig. Ihre Ursache ist immer die gleiche. Jeder braucht Geld zum Leben, und dazu braucht er eine Arbeit. Diese Tatsache wird gerne als Totschlagargument genutzt, um die Lage der Arbeitenden weiter zu verschlechtern und unter dem Banner „Sicherung der Arbeitsplätze“ mehr und mehr unsichere und schlecht bezahlte Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen. Im wachsenden Dienstleistungssektor arbeiten immer mehr Menschen für immer weniger Geld. Längst betrifft das auch produzierende Unternehmen, die Baubranche, Transport und Universitäten. Studenten verschulden sich mit Krediten, die sie über ihr ganzes Arbeitsleben abzahlen. Ein zuverlässiger Indikator für unsere Entwicklung ist der Blick über den großen Teich: Wenn wir nach Amerika schauen ist das ein Blick auf unsere eigene Lage in der Zukunft, auf das, wohin uns unser aktueller Weg führt.
 

Auch wenn die Bedingungen des Marktes nicht von einem Tag auf den anderen geändert werden können, eins kann jeder tun: Ausgrenzung und Konkurrenzdenken abbauen und nicht auf die herabschauen, die mit uns in einem Boot sitzen. Die Politik muss endlich Hartz IV abschaffen, diesen Rückschritt des Sozialstaats, der Kinder zu Bezügeempfängern macht und sie in eine so schlechte Startposition für das Leben bringt, dass es an ein Wunder grenzt, wenn sie es dort herausschaffen. Ein Paketbote muss endlich wieder vernünftig bezahlt werden, genau wie die Aushilfskräfte in den Büros. Der aktuelle Weg der Vereinzelung und der Spaltung der Gesellschaft darf nicht weitergegangen werden. Schauen Sie nicht auf Arbeitslose herab, das ist der erste Schritt. Nur so bleibt eine Gesellschaft auch eine Gemeinschaft.

Das schlimmste an der Pandemie ist,

wenn sie vorbei ist.

 

Schreckensszenarien im Herbst, Untergangsprognosen im Winter – explosionsartig steigende Inzidenzen und Mutationen, die gegen die Impfung immun sind. Vieles sah noch vor wenigen Monaten düster aus. Die Menschheit traute sich nicht, auf ein Ende der Pandemie zu hoffen. Jetzt wirklich nicht mehr. Jeglicher Silberstreif am Horizont war verschwunden, man fügte sich in das Unvermeidliche. Konzepte zum Leben mit dem Virus wurden erdacht. Die Entstehung von Pandemien wurde in Zusammenhang mit dem globalen Wachstumsrausch und der damit einhergehenden Umweltverschmutzung gebracht. Schließlich wurde auch unser überbordender Lebensstil in Frage gestellt. Ja, es stimmt: Ganz langsam verbreitete sich ein Gefühl von Demut. Nur wenige Monate später sieht die Welt schon wieder ganz anders aus: Die Impfzahlen steigen, die Kinder sind verschont geblieben und am Horizont taucht die zurückhaltende Aussicht auf Lockerungen auf. Es entsteht wieder so etwas wie Hoffnung – und die ist fatal. 

 

Alles Schlechte hat auch etwas Gutes, und diese Pandemie brachte gewisse Nebeneffekte mit sich, die zu einem echten Umdenken hätten führen können. Die eine positive Entwicklung in Gang gesetzt haben oder wie ein Katalysator im ewigen Immer-weiter-so der Wachstumsspießigkeit unserer Generation längst überfällige Maßnahmen in den Bereichen Klimaschutz und Digitalisierung vorangetrieben haben. Wachstumsspießigkeit, das heißt für mich: Möglichkeiten verpennen, zum Beispiel im Bereich der Digitalisierung der Schulen und der Verwaltung und gleichzeitig darauf hoffen, dass der technische Fortschritt unsere selbstverschuldeten Probleme schon irgendwie lösen wird – ohne dass wir etwas ändern müssen. Diese Abwärtsspirale schien zumindest ins Stocken zu kommen. Das ewig träge Schulsystem denkt nach zwei Jahren endlich einmal darüber nach, wie guter Fernunterricht funktionieren kann und die Menschen überlegen, ob man Kreuzfahrten und Flugreisen nicht auch nach der Pandemie einfach sein lassen kann. Ich weiß nicht, wie es beim Einzelnen vonstatten geht, aber ich kann mir gut vorstellen, wie die erzwungene Zeit zu Hause den Mensch irgendwann zur kontemplativen Betrachtung bringt und er darüber nachdenkt, ob das Virus vielleicht mit unserem Verhalten zu tun hat, mit unserem Umwelt- und selbstzerstörerischen Lebensstil und ob wir daran nicht mal etwas ändern sollten. Haben Sie diesen Gedanken nicht auch schon einmal wenigstens ganz latent bei sich wahrgenommen? Ein Anflug von „Vielleicht wären gesunde Wälder und leere Autobahnen nicht so schlecht“ - vielleicht ist durchsuchten von Stand-Up Comedies kein Lebenszweck. Vielleicht ist es nicht so schlimm, wenn meine Mitarbeiter von zu Hause aus arbeiten – die Arbeit wird ja getan, das sieht auch der konservativste Vorgesetzte langsam ein. Wir können nicht einfach weiter machen wie bisher, wir können nicht darauf hoffen, dass die technische Entwicklung  – also die Industrie, deren Schlote und LKWs heute die Luft verpesten und die Straßen verstopfen – die Erlösung bringt und es uns ermöglicht, einfach immer weiter zu machen, aber trotzdem zu überleben. Es geht auch anders, es gibt auch andere Möglichkeiten, und sie sind besser als die Wege, die wir bisher gegangen sind. Weil sie uns mehr gut tun, weil sie sich richtiger anfühlen. 

Und dann der Mai 2021: Die Impfquote steigt, die Inzidenz sinkt und langsam stellt sich ein Gefühl ein, das schon fast vergessen schien. Die Hoffnung auf das Ende der Pandemie oder zumindest auf „ein Stück Normalität“. Vor dem inneren Auge taucht das alte Leben wieder auf. Shopping-Center, Fernreisen, fast vergessene Konsumwünsche. Wie ein Springteufel schießt die Wirtschaft aus der Box: ein Pool für jeden, neue Sommerkollektion, brandneue Reiseangebote und eine Klimaanlage im Schlafzimmer, das neue große Ding nach dem Luftreiniger-Boom in 2020. Die Industrie wird diesen Silberfaden nur allzu gerne aufnehmen und ihn weiterspinnen: Ein rundum-sorglos Paket aus Kreuzfahrten, Sommermode, Seefisch und Konsum. Jetzt-erst-Recht macht sich breit. Die wenigen, noch in der Entwicklung begriffenen positiven Nebeneffekte der letzten zwei Jahre werden dem nichts entgegensetzen können. Sie werden hinweggefegt von den ins Reisebüro stürmenden Mengen der Geimpften, der Legionen der Genesenen in den mit neuem Glanz und Gloria aufgepumptem Shopping Centern, die mit aller Macht zu neuer Größe streben: Schöner, besser, neuer als zuvor. Die zarten Triebe des Umdenkens werden dem schweren Stiefel des neu erstarkten Weiter-wie-bisher nichts entgegenzusetzen haben. Schade.