Mangelnde Anpassungsfähigkeit
Ich war nie ein schlechter Schüler. Ich war meistens ein mittelmäßiger Schüler. Irgendwann habe ich den Dreh rausbekommen: Ich kam zu der Auffassung, dass die Lehrer, wenn sie glauben, dass ein Schüler gut ist, er auch gut benotet wird. Also begann ich irgendwann, ganz entgegen meiner Gewohnheit, mich am Unterricht zu beteiligen. Vermutlich beeindruckt von der Erkenntnis, dass ich existierte und irgendwie immer irgendetwas zum Unterricht beizutragen hatte, waren die Lehrer schon beim Anblick meiner Klassenarbeiten positiv voreingenommen und bescherten mir proportional bessere Zensuren. Was mich von einem mittelmäßigen zu einem sehr guten Schüler werden ließ. Noch heute glaube ich irgendwie daran und es lässt mich, weil es so einfach war, mit Geringschätzung auf meine Schule zurückblicken. Die Einführung von Kennnummern und zentralen Klausuren hat mich noch in meiner Auffassung bestärkt, denn sie sollen ja gerade diese Voreingenommenheit beseitigen. Diese Geringschätzung bezieht sich allerdings auf meine weiterführende Schule, das sogenannte Gymnasium, das ich besuchte. Weit größere Abneigung bringe ich allerdings dem Lehrer entgegen, der mir die schlechteste Zensur meiner Karriere in der Grundschule verpasste: Eine fette, rote, unauslöschbar in meinem Lebenslauf vorhandene: 6, sechs, VI. In meinem ewigen und einzigen (na gut, gelogen) Lieblingsfach: Deutsch.
Es muss in der dritten oder vierten Klasse gewesen sein. Eben dann, wenn man eine textlose Bildergeschichte bekommt und sich die dementsprechende Geschichte dazu ausdenken muss. Ich bin grandios in die Falle getappt und habe mir tatsächlich etwas ausgedacht. Ich hätte es wissen müssen. Ich glaube, es hat nur etwa dreißig Jahre gedauert bis ich wieder in der Lage war, mir selbst etwas auszudenken. Und ich hatte einen verdammt schweren Start. Es ging um rätselhafte Ereignisse, verruchte Bars und Schläge auf den Kopf. Also, nach dreißig Jahren, nicht in der Grundschule. Aber das ist eine ganz andere Geschichte. Damals ging es um Vater und Sohn. Es war dieser Evergreen-Cartoon mit dem dicken, schnauzbärtigen Vater und seinem lausbübischen Sohn. Ich weiß nicht mehr, was er diesmal angestellt hatte, aber wenn ich ein wenig in meinem Unterbewusstsein grabe kommt es bestimmt wieder hervor. Ich erzählte also brav die Geschichte, die sich mir auf den Bildern zeigte, erfand eine Rahmenhandlung, einen Vorspann, Nebenschauplätze und spann die Geschichte weiter. Die Worte flossen aus meiner Feder. Ich wusste damals noch nicht was es heißt, einen flow zu haben, dieses Gefühl, wenn sich alles wie von allein entwickelt, jedes Wort bedingt das nächste, die Sätze fließen in Spiralen durch die Hirnwindungen und ordnen sich fein säuberlich in Reihen bevor sie über die Finger auf das Blatt fließen. Es ist der Zustand, den jeder Schaffende herbei sehnt. Er war mein Untergang. Es war eine dicke, fette sechs in meinem Schulheft mit dem schlanken Hinweis "Thema verfehlt". Es war das Ende meines kreativen Schaffens.