Mangelnde Ausdrucksfähigkeit
Ich beneide die Maler, wenn sie mit gekonntem Strich ihre Bilder auf einer Leinwand entstehen lassen. Ihre Ausdrucksmöglichkeiten kennen keine Grenzen. Sie wählen Pinsel oder Kohle, malen mit bloßen Händen oder einem feinen Bleistift, sie sprühen und nebeln. Sie wählen nicht nur die Dicke ihres Pinsels, sondern drehen ihn wie sie ihn brauchen, wie die Inspiration ihn führt. Sie wischen oder streichen, sie tupfen und verwischen. Jeder Untergrund verleiht dem Kunstwerk eine andere Wirkung, jeder hat seine Berechtigung: Papier oder Leinwand, Mauer oder Stoff. Sie mischen die Farben in unendlich vielen Nuancen, und diese mischen sie wiederum ineinander. Erzeugen Lichteffekte und optische Finessen, verwandeln wie zufällig hingetupfte Kleckse in Bäume und Wolken. Ganze Landschaften, ganz eigene Welten entstehen. Abstrakte Werke transportieren Gefühle, ziehen den Betrachter in die Seelenwelt des Malers, lassen ihn verblüfft oder konsterniert zurück. Der Maler schafft verschiedene Ebenen und lässt diese wirken. Manche sind ihm bewusst und nehmen den Betrachter mit, manche sind ihm selbst unbewusst aber nicht weniger wirkungsvoll. Sieht er einen Pinselstrich verfehlt, übermalt er ihn und lässt etwas neues entstehen. Manchmal entstehen so ganz neue Motive, komplett andere Bilder und überdecken die vorherigen. Unwillkürlich fragt man sich, ob das darunter liegende Werk damit verschwunden ist oder ob es bloß im Unbewussten des Gemäldes liegt, so wie Erfahrungen im Unterbewussten des Geistes liegen und ihre Wirkung an der Oberfläche, mit unerkannter Ursache, entfalten. Entfaltet auch das verdeckte Werk noch seine Wirkung? Wie beeinflusst es Farben, Lichtreflexe und Eindruck beim Betrachter? Viele Künstler bauen ihre Werke Ebene für Ebene auf. Beruht ihre Wirkung auf der Vielschichtigkeit ihrer Werke, in welcher jede Ebene ihren eigenen Einfluss, ihren Zauber auf uns ausübt und uns erahnen lässt, dass es mehr darunter gibt als wir zunächst zu sehen glauben?
Die Möglichkeiten des Malers sind unendlich; malt er einen Vogel, kann er mit dem nächsten Strich einen Baum daraus entstehen lassen. Und sind es nicht die schönsten Bäume, wenn wir nicht mit letzter Sicherheit sagen können, ob sie nicht vorher ein Vogel waren, wenn sie etwas unbestimmtes, etwas zweideutiges in sich tragen? Überhaupt übt ein Kunstwerk doch den größten Reiz aus, wenn es die Wirklichkeit nicht abbildet wie ein Foto, sondern uns durch die Augen des Schaffenden blicken lässt. Selbstverständlich passiert das selbst in dem naturgetreuesten Abbild noch, denn jedes trägt die Handschrift des Menschen, der es geschaffen hat. Selbst ein Kunstfälscher, und nichts anderes sind die realistischen Maler wenn sie die Kunst der Natur möglichst originalgetreu zu kopieren suchen, lassen ihre persönliche Handschrift zurück. Besonders beeindruckend sind dabei die Bilder der Kinder und dabei nicht weniger anspruchsvoll. Aus einem Fundus von Buntstiften wählen sie einen passenden und malen die Dinge, wie sie ihnen in den Sinn kommen. Ihre Motorik ist noch nicht fein ausgeprägt, aber ihre Intentionen sind vielleicht noch unverdorben von äußeren Einflüssen, sie malen ganz aus sich. Die Handschrift des Künstlers lässt sich aus den Bildern von Kindern ganz wunderbar ablesen. Auch die reine Emotion kann sich in einem Bild wiederspiegeln: Wenn der Maler Punkte und Kleckse auf die Leinwand feuert, wenn er sein Innerstes nach außen kehrt und sich ungehemmt dem Schaffensprozess hingibt, wird kein verständiger Sinn ernsthaft behaupten können, dass es sich bei einer solchen Selbstentblößung um minderwertige Kunst handelt. Der Maler ist nicht gezwungen, die Leinwand komplett auszufüllen. Ist ihm nach Minimalismus, treffen die leer gelassenen Stellen eine Aussage für ihn. Er wählt das Format selbst, ob Briefmarke oder Hauswand, es bleibt seiner Absicht überlassen. Er ist auch nicht in zwei Dimensionen verhaftet: Er verleiht seinem Werk Struktur, gibt ihm Ecken und Kanten, Erhebungen und Vertiefungen. Auch Worte kann er wirksam einsetzen. Die wenigsten tun es, denn sie kennen die Beschränktheit des Ausdrucks von Worten, ihre engen Grenzen, ihre Fixierung durch die Sprache, die Form, die Anzahl der Vokabeln, die meinen alles sagen zu können aber in ihrem Ausdruck doch immer beschränkt bleiben. Immer fehlt das passende Wort irgendwie, immer ist es nah dran aber nie auf den Punkt, manchmal findet man, en passant, ein Wort in einer anderen Sprache, manchmal ist es ein stundenlanger Kampf, ein Ringen und editieren.
Ich beneide die Maler, denn ihre Ausdruckskraft kennt keine Grenzen. Ich habe nur Worte.