Die Maschine steht still

In seiner Kurzgeschichte „Die Maschine steht still“ beschreibt E.M. Forster die Vision der Welt in einer unbestimmten Zukunft. Die Menschen sind gezwungen, unter der Erdoberfläche zu leben, ihre Welt ist sicher, steril und eintönig, sie ist unproduktiv: Das Leben der Menschen besteht aus dem Konsum lebensnotwendiger Dinge und vorgedachter Ideen aus zweiter Hand. Das Besondere an dieser Kurzgeschichte: Sie wurde im November 1909 veröffentlicht und gilt aufgrund ihrer treffenden Voraussagen über das Leben in der Zukunft als außergewöhnlich visionär. 

 

Ihre Vorhersagekraft kann man meiner Meinung nach aus zwei Perspektiven heraus bewundern: Zum einen, weil sie aus der Sicht von vor über hundert Jahren erstaunlich exakt unser heutiges Leben beschreibt. Vielleicht aber auch, weil sie zeigt, wie scharf Forster das menschliche Sein oder Wesen, losgelöst von seinem zeitlichen Rahmen, zu betrachten vermochte. Letzten Endes hängt beides zusammen. Darauf möchte ich im Folgenden näher eingehen. Zunächst zu Forsters visionären Fähigkeiten. Wie konnte dieser Mann kurz nach Beginn der Industrialisierung schon so genau unser heutiges Leben und seine wahrscheinliche weitere Entwicklung vorhersagen? Weltumspannende Kommunikationsmedien, Fernsehen und Videotelefonie sind Alltag. Weltweite problemlose Mobilität – aber auch grenzenlose Umweltverschmutzung „zum Greifen nah“. Ein Erklärungsversuch: Eine nicht ganz unbeliebte Theorie über menschliche Erfindungen sagt im Kern aus, dass der Mensch eben das erfindet, was er sich vorstellen kann oder was er sich wünscht. Das Internet, Smartphones und alle Arten von Mobilität wurden nicht entdeckt wie ein Regenwurm unter einem Stein – sie wurden gezielt entwickelt, weil sie gewünscht oder gebraucht wurden. Der Speer ist der verlängerte Arm auf der Jagd, das Smartphone der 2000er ist die Realisierung des Communicators aus der Star Trek Serie der 60er Jahre – und dieser wiederum auf weiter zurückliegende Kommunikationsbedürfnisse zurück zu führen. Weil die Menschen es sich wünschen, haben sie es erfunden. Weil sich die Menschen rasantes, weltumspannendes Reisen, grenzenlose Kommunikation und Schutz vor der bedrohlichen Umwelt wünschen, haben sie die Dinge erfunden, wie sie in „Die Maschine steht still“ und anderen fantastischen Geschichten vorausgedacht wurden. Das war Forsters große Leistung beim Schreiben seiner Geschichte. Die zweite ist eng damit verbunden: Seine Scharfsicht für die Wünsche und Bedürfnisse, ja für die generelle Denkweise der Menschen. Das Beispiel mit dem Speer zeigt noch mehr als die Entwicklung von gewünschtem und gebrauchtem, nämlich dass das Denken der Menschen im Prinzip schon immer in den gleichen Bahnen verlief. Oder etwas abstrakter ausgedrückt: Dass es sich durch schon lange, vielleicht schon immer existierende Schemata beschreiben lässt. Unsere Technik hat sich weiterentwickelt, das heißt immer neue Dinge wurden erfunden. Aber hat sich unser Denken denn grundsätzlich verändert? Denken wir heute langfristiger, vernünftiger, vorausschauender und in jeder Hinsicht besser als die Menschen vor hundert Jahren. Wohl kaum. Die Ideen haben sich hier und da inhaltlich verändert, die Form blieb die gleiche. Das würde den zweiten Aspekt von Forsters verblüffender Treffsicherheit bei seinem Blick in die Zukunft erklären. Er war, wie viele herausragende Schriftsteller, ein sehr guter Beobachter, der in der Lage war, das Wesentliche zu erkennen. 

Diese Beurteilung mag den Eindruck erwecken, dass Forsters Scharfsinn trivialisiert oder seine Leistung in irgendeiner Form geschmälert werden soll. Das trifft nicht zu. Allerdings denke ich, dass seine Beobachtungsgabe und seine genauen Vorhersagen nicht die größte Leistung von Forsters Geschichte sind. Das eigentlich Besondere an „Die Maschine steht still“ ist die Dystopie. Das Beeindruckende ist,  wie zutreffend sie ist. Forster ist der Prophet im eigenen Land, er ist der Rufer in der Wüste: Die unweigerliche Erfolglosigkeit seiner Einsicht, das Verhallen der Warnung, die Nutzlosigkeit seines Appells. Er beobachtet treffsicher, was die Menschen wünschen und wollen, auf welches Endziel sie hinsteuern. Hundert Jahre später bewundern wir, wie zutreffend seine Vision ist. Aber er stellt unmissverständlich, und das schon im Titel, fest, dass der Mensch mit dem Weg, den er eingeschlagen hat, nicht auf sein Wohl zusteuert. Seine Geschichte malt ein düsteres Bild der Zukunft, sie beschreibt das Ende der Menschheit, ihren Weg dorthin und ihre Unfähigkeit, das selbst zu erkennen. Der Protagonist Kuno weiß die Wahrheit und mahnt seine Mutter, die stellvertretend für den Zeitgeist steht. Doch sie will nicht hören. Genauso wie Forster vor hundert Jahren seine Mitmenschen gewarnt hat, die dann auch nicht auf ihn hörten. Wie Recht er mit seiner Einschätzung der Menschen hat, zeigt sich in seinen Prophezeiungen. Sie bewahrheiten sich vollständig und verblüffend und zeigen dadurch doch nur, wie erfolglos sie waren. Die Menschen ließen sich nicht warnen. Hielten sie seine Warnung für eine amüsante Marotte der Maschine und erkannten nicht die Zeichen des Verfalls? Und – trifft das nicht noch viel mehr auf uns zu? Sollten wir angesichts globaler Umweltkatastrophen und weltweiter Flüchtlingsbewegungen, die direkt auf unseren „Fortschritt“ zurück zu führen sind, nicht gewarnt sein? Entfremden wir uns nicht weiter und weiter von der Technik, wenn wir sie nicht mehr verstehen, sondern nur noch benutzen? Ist das nicht, wovor Forster warnte, als er uns davon erzählte, dass die Menschen die Maschine nicht mehr reparieren konnten, weil sie sie nicht mehr verstanden? Steuern wir auf das Ende zu, wie es Kuno/Forster voraussagten? Alles deutet darauf hin. Wir werden uns nicht wundern dürfen wenn es eines Tages so weit ist und wir am Ende wahnsinnigen Wachstums und immer rasender Geschwindigkeit aufschlagen und feststellen: Das Ende ist da, Die Maschine steht still.